Die Zukunft der Mobilität
Mobilität ist ein emotionales Thema, darum schlag ich vor, erst einmal ein bisschen Sachlichkeit hereinzubringen. Wie hat sich die Mobilität in den letzten 20 Jahren verändert? (inkl. Stadt/Land)
Stefan Carsten: Vor 20 Jahren gab es im heutigen Sinne keine Mobilität. Es gab in der Regel fünf, vielleicht sechs Optionen unterwegs zu sein: zu Fuss, mit dem Fahrrad bzw. mit dem Zweirad, mit dem Auto, mit dem ÖV, mit dem Schiff oder mit dem Flugzeug. Selten gab es schon ein stationäres Carsharing-Angebot oder vielleicht eine Mitfahrzentrale. In meinem Verständnis bedeutet Mobilität nicht nur die Voraussetzung für die Bewegung, sondern auch die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Angeboten, zum Beispiel eine nachhaltige Option, eine schnelle oder eine komfortable. An vielen Orten, vor allem auf dem Land, ist dies nicht immer so.
Das heisst, es gibt Orte der Mobilität und Orte, an denen oftmals nur das eigene Auto zur Verfügung steht. Aber diese Orte werden zum Glück immer weniger.
Und heute: wer ist wie mobil?
Während die Städte also immer mobiler werden, ist die Mobilität auf dem Land vor allem durch Automobilität geprägt. Wer glückt hat, kann auf einen funktionierenden ÖV zurückgreifen aber nur, wenn dies den Bedürfnissen vor Ort entspricht und nicht auf der reinen Verfügbarkeit einer Haltestelle basiert, die einmal morgens und einmal abends bedient wird. In Städten hingegen hat sich der Trend zur Multimodalität voll durchgesetzt. Heute Fahrrad, morgen ÖV, übermorgen Carsharing. Und nächste Woche wieder ganz anders. Gerade die jüngeren Generationen legen grossen Wert auf Unabhängigkeit und Flexibilität. Das eigene Auto spielt für diese Menschen keine Rolle mehr, vielleicht noch Leasing, vielleicht ein Auto-Abonnement, aber mit Sicherheit Carsharing.
Emotionen rund um die Mobilität: In Deutschland ist es die Tempolimite, in der Schweiz sind es die verschwindenden Parkplätze und FahrradfahrerInnen, die sich aus Trotz nicht an die Verkehrsregeln halten. Woher kommen diese?
Mobilität ist über Jahrzehnte von Routinen geprägt. Einmal mit dem Auto, immer mit dem Auto. Einmal ÖV-NutzerIn, immer ÖV-NutzerIn. Diese Routinen wurden in der Vergangenheit nur beim Umzug, bei Biografie-Übergängen (z.B. von der Schule in den Beruf) oder beim Jobwechsel in Frage gestellt oder neu bewertet. Diese Bewertung vollzieht sich nun immer häufiger und immer wieder aufs Neue. Neue Mobilitätsangebote machen neugierig, neue Zugänge laden zum Ausprobieren ein. Und vielleicht am wichtigsten: Neue Mobilitätsräume, die in erster Linie den Rückbau von automobilen Strukturen und die Förderung von FussgängerInnen, FahrradfahrerInnen und dem ÖV dienen, sorgen für neue und sichere Erfahrungen. Wir befinden uns in einer Phase der Transition, von einem gelernten Mobilitätssystem in ein neues. Dies bringt häufig Emotionen, vielleicht aber auch Unsicherheit oder Trotz mit sich.
«Wir müssen aufhören, Argumente aus der Vergangenheit
in die Zukunft zu verlängern.»
Haben Sie den Eindruck, dass unsere politischen VertreterInnen in Bezug auf Mobilitätsfragen in Trends denken und agieren oder lassen sie sich von Emotionen und Blockdenken leiten?
Es gibt nur sehr wenige politische Akteure, die den Mut aufbringen, zu gestalten. Die Regel sind vielmehr, verwaltende politische VertreterInnen. Gerade in Deutschland haben viele Akteure Angst vor den Menschen auf der Strasse, vor Kritik und negativen Kommentaren, die die nächste Wahl kosten könnte. Mich überrascht aber darüber hinaus sehr, mit welchen tradierten Denkrollen noch immer argumentiert wird: Tempolimits kosten wirtschaftliche Entwicklung. Nein. Der Rückbau von Parkplätzen vor dem Einzelhandel kostet Umsatz. Nein. Der Aufbau von Fahrradwegen kostet den Steuerzahler vor allem Geld. Nein. Der Rückbau von Autostrassen führt zu Stau. Nein. Wir müssen also aufhören, Argumente aus der Vergangenheit in die Zukunft zu verlängern. Dies gilt vor allem für politische Akteure, aber auch für viele andere.
Ich fahre seit der Pandemie viel mehr Fahrrad, auch zum Pendeln habe ich fast vollständig umgestellt. Hat Corona die Mobilität (nachhaltig) verändert?
Ja. Es ist ein Bewusstsein über die Qualität des öffentlichen Raumes entstanden, dass mich recht optimistisch in die Zukunft blicken lässt. Noch vor wenigen Jahren waren Städte wie Berlin oder Zürich reine ÖV- und Autostädte. Dann kamen die Elektrofahrräder, die längere Distanzen und Topografie nahezu irrelevant haben werden lassen. Durch die Pandemie kamen dann sichere und geschützte Fahrradwege hinzu, die die Menschen haben umdenken lassen. Fahrradläden sind heute ausverkauft, Werkstatt-Termine nahezu unmöglich zu bekommen und der nächste grosse Fahrradtrend schon vor der Tür: Cargobikes.
Das Fahrrad gilt als neues Statussymbol, gleichzeitig wohnen Geringverdienende eher nicht in den teuren Städten und haben eher längere Pendlerwege. Wie sieht eine ökologisch nachhaltige Mobilität aus, die auch ökonomisch für alle zugänglich ist?
Eine nachhaltige Lösung besteht aus zwei Aspekten: Der erste Aspekt ist eben doch das Fahrrad. Wir können feststellen, dass durch Elektrounterstützung die Pendelwege mit dem Fahrrad deutlich länger werden, sodass immer mehr Menschen in der Lage sind, nachhaltig mobil zu sein. Menschen, die sich dies nicht leisten können, könnten und sollten finanzielle Unterstützung erfahren, auch um sich zum Beispiel ein Cargobike leisten zu können. Der Mehrwert für die Gesellschaft rechtfertigt dies auf jeden Fall. Jeder gefahrene Kilometer mit dem Fahrrad bringt der Gesellschaft einen monetären Gewinn (drastischer Rückgang der Gesundheitskosten), jeder gefahrene Kilometer mit dem Auto kostet die Gesellschaft Geld (externalisierte Kosten durch Emissionen, Unfälle, etc.). Zweitens, die Modernisierung des ÖPNVs. Der ÖPNV ist das soziale und nachhaltige Rückgrat der Mobilität und sollte in dieser Rolle weiter unterstützt werden. Dafür muss der ÖPNV private Dienste integrieren (Bikesharing, Scootersharing) und private Dienste den ÖPNV in dieser Rolle unterstützen, zum Beispiel durch das Bedienen von unterversorgten Strecken. Der ÖPNV, der ohne Fahrkartenautomaten auskommt, ist für mich ein schönes Bild in diesem Sinne. Ich nutze die mobilen Möglichkeiten und erhalte die Abrechnung am Ende des Tages oder des Monats von einem integrierten Anbieter – dem ÖPNV.
Mobilität wird fluider, die Menschen entscheiden sich nicht mehr für oder gegen ein Verkehrsmittel, sondern wählen situativ das Passende aus. Verfügen die Städte über die nötige Infrastruktur?
Nein. Erst wenn Städte verstanden haben, dass der Zugang zur Mobilität relevant ist, können sie entsprechende Massnahmen umsetzen. Für mich sind Mobility Hubs von grosser Bedeutung. Es sind eben nicht nur bemalte Strassenflächen, wo Scooter, Fahrräder oder Ladeoptionen zur Verfügung stehen. Es sollten vielmehr neue Architekturen und Räume für Mobilität und den sozialen Austausch sein. Nicht nur in der Innenstadt, sondern an jeder ÖV-Haltestelle – im suburbanen Raum, im ländlichen Raum und in der Stadt.
Welche Infrastrukturanpassungen müssen oder werden aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren erfolgen?
Das sogenannte Road Diet, also der Rückbau von Autostrukturen zugunsten für FussgängerInnen, FahrradfahrerInnen und dem ÖV, ist vielleicht die wichtigste Anpassung. Sie gewährleistet nachhaltige und sichere Mobilität. Gleichzeitig werden sich Tankstellen mehr und mehr zu Mobility Hubs entwickeln, weil im Zuge der Antriebswende, keine fossilen Strukturen mehr benötigt werden. Und drittens werden sich Städte und Regionen langsam, aber sicher auf die autonome Mobilität vorbereiten müssen. Dafür braucht es digitale Infrastrukturen, zum Beispiel für die Steuerung und Priorisierung von Verkehren an der Bordsteinkante. Wer darf in Zukunft wie lange an der Bordsteinkante parken, ist in einem System der Algorithmen und Sensoren von grosser Bedeutung für das Verkehrssystem.
In vielen Städten ist der verfügbare Raum sehr beschränkt. In Bern hat es zum Beispiel viele Brücken, auf denen zirkulieren Trams, Busse, FussgängerInnen und FahrräderInnen, breiter machen kann man diese aber nicht. Können Sie uns konkrete Beispiele nennen, bei welchen trotz beengten Verhältnissen und historischen Gemäuern ein guter und sicherer Verkehrsmix zustande kam?
Amsterdam. In Amsterdam gibt es seit vielen Jahren eine stark priorisierte Verkehrsstrategie, bei der Fahrräder und Fussgänger immer zuerst kommen, dann der öffentliche Verkehr, Sharing-Angebote und schliesslich das Auto – das Auto wird auch nur geduldet und verschwindet immer stärker aus dem (historischen) öffentlichem Raum. D.h. nicht jede Strasse, nicht jeder Raum muss alle Verkehrsmittel aufnehmen und versorgen. Die Stadt ist dafür gross genug, um den einen oder anderen (Um)weg nehmen zu können. Allerdings weisen heute nur wenige Städte eine derart stratifizierte Nutzungshierarchie auf. Viele versuchen tatsächlich, alles überall zu ermöglichen. Ich denke nicht, dass dies der geeignete Schritt in die Zukunft ist.
«Erleben wird wichtiger
als Besitzen.»
Femobility scheint das Schlagwort der Stunde zu sein. Können Sie uns konkrete Beispiele des Gender Mobility Gaps nennen?
Ich finde es sehr bezeichnend, dass Sharing-Angebote in erster Linie von Männern genutzt werden. Dies zeigt, dass die Bedürfnisse von Frauen zu wenig berücksichtigt werden. Wie funktioniert der Zugang? Was sind Transportanforderungen? Wie sicher sind die Angebote? Fragen, die Männer kaum berühren, für Frauen aber von grosser Bedeutung sind.
Und entsprechend: konkrete und gute Lösungen?
Frauen sind multimodaler und viel stärker auf Nachhaltigkeit bedacht. Gibt es dafür schon überall die geeigneten Angebote. Zum Beispiel Mobilitätskontingente, die Frauen in der Mobilität unterstützen? Solch integrierte Mobilitätstarife gibt es aktuell in Helsinki oder in Augsburg. Und davon braucht es noch viel mehr Angebote.
Welches sind die wichtigsten, kommenden Trends?
E-Volution: Die Politik hat sich durchgesetzt. Was die Automobilindustrie nie wollte, ist tatsächlich eingetreten:
Dieselfahrzeuge und Benziner werden schon bald Vergangenheit sein, ebenso der Hybridantrieb. Die Zukunft gehört dem Elektromotor – und damit einer Mobilität, die endlich sauber und gesund ist.
Connecting the Countryside: Das Missverhältnis von urbaner Mobilität und ländlicher Automobilität löst sich langsam auf. Immer mehr Akteure und Akteurinnen nehmen sich dieses Dilemmas an und bieten flexible Mobilitätskonzepte in Räumen, die dafür im herkömmlichen Sinne nicht geeignet sind. Der ländliche Raum mobilisiert sich – endlich.
Xycles: Fahrrad oder Auto? Personen oder Pakete? Elektrisch oder sportlich? Zwei Räder oder drei – oder vier? Die neuen Konzepte der Fahrradindustrie erfüllen jeden Wunsch.
Im Kontext neuer städtischer Infrastrukturpraktiken werden sie zum Statussymbol auf der letzten Meile – und weisen den Weg in eine nachhaltige Zukunft.
Mobility Seeker: Erleben wird wichtiger als Besitzen. Der flexible Zugriff auf die ganzeVielfalt an Mobilität wird so zu einem Spiel, das den Spass an Abwechslung bezeugt, auf Vielfalt statt Routinen setzt und Pragmatik über Status stellt.
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- STEFAN CARSTEN
Dr. Stefan Carsten ist Zukunftsforscher und Stadtgeograf. Er war Projektleiter in der Zukunfts- und Umfeldforschung der Daimler AG in Berlin und konzipierte dort neue Mobilitätsdienste für die Städte von Morgen. Aktuell ist im Beirat des Bundesverkehrsministeriums für «Strategische Leitlinien des ÖPNVs in Deutschland», der IAA Mobility in München und des Reallabors Radbahn in Berlin. Seit 2019 veröffentlicht er in Kooperation mit dem Zukunftsinstitut den Mobility Report. Er ist verheiratet, hatzwei Kinder und lebt und arbeitet in Berlin.