Klimaangepasste Stadtentwicklung und Architektur «Die Wand wird essbar»
Der Klimawandel und dessen Auswirkungen sind nicht nur durch den steigenden Meeresspiegel und die schwindenden Gletscher spürbar, sondern auch durch immer längere und intensivere Hitzeperioden in Schweizer Städten. Kaum ein Lüftchen schafft es durch die engen Gassen und der Boden sowie die Fassaden halten alles schön am Kochen. Unter der Hitze leiden nicht nur Kleinkinder und betagte Personen, auch die Produktivität der arbeitenden Bevölkerung nimmt ab und einheimische Pflanzen verbrennen ziemlich schnell.
Massgebend für die Hitzeentwicklung im innerstädtischen Bereich sind die Wärmeabstrahlung von befestigten Bodenbelägen sowie von Fassaden und Dächern. Aufgrund der dichten Überbauung fallen immer häufiger ökologisch wertvolle und hitzereduzierende Grünflächen weg. So haben Temperaturmessungen in Lyon gezeigt, dass durch den Schatten eines einzelnen Baumes die Wärmeabstrahlung der darunterliegenden Belagsfläche um bis zu 20° C reduziert werden kann.
Welche Möglichkeiten es gibt, die Anzahl der Grünflächen zu erhöhen und so der Hitze entgegenzuwirken, wurde im Rahmen des usic Young Professional Anlasses am 7. November 2019 in der Stadtgärtnerei Zürich durch Anke Domschky und Roland Züger vom Institut Urban Landscape der ZHAW sowie durch Markus Fierz vom Büro raderschallpartner ag erläutert.
Geschichtlicher Hintergrund
Das Zusammenspiel von Gebäuden und Natur hat eine lange Geschichte. Roland Züger zeigte den Young Professionals an Beispielen von historischen Bauten auf, welche Symbolik einer Begrünung der Gebäude zugeschrieben wird. So demonstriert der Turm von Lucca durch seine Bepflanzung auf dem Dach, durch welche er noch etwas weiter in den Himmel reicht, seine Machtposition. Die antiken Herrenhäuser, eingebettet in eine wunderschöne Parklandschaft, symbolisieren die jugendliche Kraft ihrer Bewohner. Während früher diese Symbolik im Zentrum stand, stehen heute bei der Begrünung von Gebäuden und Siedlungsgebieten die Förderung der Biodiversität und die Reduktion der Hitze im Vordergrund.
Möglichkeiten der Fassadenbegrünung
Der Landschaftsarchitekt Markus Fierz ist Experte für die technische Umsetzung von Vertikalbegrünungssystemen. An vier Anschauungsprojekten der Stadtgärtnerei Zürich erklärte er den rund 40 anwesenden usic Young Professionals den Unterschied zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Fassadenbegrünung. Grundsätzlich wird zwischen boden- und fassadengebundenen Systemen unterschieden.
Bei bodengebundenen Systemen sind die Pflanzen ganz klassisch im Boden verwurzelt und klettern durch Rankhilfen elegant der Fassade entlang. Für das Anschauungsbeispiel einer bodengebundenen Vertikalbegrünung wurden fruchttragende Pflanzen gewählt, sodass «die Wand essbar wird», wie Markus Fierz erläutert.
Im Gegensatz zum bodengebundenen System steht die fassadengebundene Vertikalbegrünung, welche gänzlich ohne Kontakt zum Boden auskommt und daher auch bei geringen Platzverhältnissen flexibel einsetzbar ist. Ob eine üppige Bepflanzung, bei welcher durch die unterschiedlichen Pflanzen ein vordefiniertes Muster gebildet wird oder eine dezente Begrünung an einer schlichten Rankhilfe gewünscht ist - den Gestaltungsmöglichkeiten der fassadengebundenen Begrünung sind keine Grenzen gesetzt. Im Gegensatz zu den bodengebundenen Systemen ist für die Bewässerung jedoch ein aufwendiges und daher kostenintensives Bewässerungssystem erforderlich.
Zur Förderung der Biodiversität wurden für sämtliche Anschauungsbeispiele in der Stadtgärtnerei ausschliesslich einheimische Pflanzen verwendet. Eine Begrünung der Fassade leistet so nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Hitzereduktion im Siedlungsgebiet, sondern bietet Lebensraum für Insekten, welche wiederum das immer kleiner werdende Nahrungsangebot für die bedrohten Fledermäuse darstellen.
Hindernisse für die Vertikalbegrünung
Trotz den vielen Vorteilen einer begrünten Fassade werden Vertikalbegrünungen in der Schweiz eher beschränkt eingesetzt. Bauherren fürchten eine Beschädigung der Bausubstanz oder eine kahl wirkende Fassade in den Wintermonaten. Durch technische Massnahmen und die richtige Wahl der Bepflanzung ist diese Angst aber gänzlich unbegründet.
Die Förderung der Biodiversität durch Vertikalbegrünung ist aus ökologischer Sicht erwünscht und doch ist für viele Menschen die Angst vor Spinnen, Mücken und Fliegen in den eigenen vier Wänden zu gross, als dass eine Bepflanzung der Fassaden überhaupt in Betracht gezogen wird. Um einen Bauherrn von einer Fassadenbegrünung zu überzeugen, reichen aber leider nicht nur sachliche Argumente aus, sondern es braucht erfolgreich umgesetzte Vorzeigeprojekte – und diese fehlen in der Schweiz noch.
Alternativen zur Vertikalbegrünung
Welche anderen Möglichkeiten es gibt, um angenehmere Temperaturen in der Stadt zu erreichen, erzählte Anke Domschky in ihrem Vortrag. Es sind nicht nur Vertikalbegrünungen notwendig, sondern bereits kleine, lokale Massnahmen wie z.B. die Begrünung eines Tram-Trassees oder der Erhalt eines 100-jährigen Baums führen zu einer deutlichen Hitzereduktion. Auch die Wahl von Rasengittersteinen statt Schwarzbelag für einen Parkplatz oder die Schaffung einer Teichlandschaft als Retention von Regenwasser tragen dazu bei, den Sommer in der Stadt etwas erträglicher zu machen. Elementar ist aber auch, bereits bei der Raumplanung die Häuser unter Berücksichtigung der Sonneneinstrahlung und der Windrichtung anzuordnen, sodass ein Hitzestau möglichst verhindert werden kann.
Nach diesen interessanten Vorträgen konnten die jungen Ingenieurinnen und Ingenieure gemeinsam mit den drei Dozenten bei einer Pizza und einem Glas Wein weiter über die Klimaentwicklung, die Vor- und Nachteile von Vertikalbegrünungen und die Förderung der Biodiversität im städtischen Gebiet diskutieren.
Am Ende des Abends waren sich alle einig, dass die Vertikalbegrünung eine von vielen Möglichkeiten ist, der Hitzeentwicklung in den Städten entgegenzuwirken und gleichzeitig einen Beitrag zur Biodiversität in den Städten zu leisten. Da die Vertikalbegrünung – trotz der langen Geschichte – in der Schweiz noch nicht angekommen ist, braucht es für die Etablierung aber mutige, junge Ingenieure, die nicht davor zurückscheuen, auch einmal etwas Neues zu wagen.