Der Streit um das Paradigma
Ende Januar 2018 hat die Wirtschaftskommission des Nationalrats beschlossen, ihrem Rat zu beantragen, im Rahmen der Totalrevision des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungsrecht (BöB), entgegen dem Vorschlag des Bundesrates das neue Zuschlagskriterium „Plausibilität des Angebots“ aufzunehmen sowie die Überprüfungen von Triefpreisangeboten verbindlich zu erklären. Die von uns geführte Allianz für ein fortschrittliches öffentliches Beschaffungswesen (AföB) begrüsste diese Beschlüsse in einer Medienmitteilung mit dem Titel „Paradigmenwechsel im Beschaffungsrecht“. Bewusst haben wir damals diesen Begriff in die Diskussion eingeführt, weil wir unseren Forderungen nach einem grundsätzlichen Überdenken des Beschaffungsprozesses und einer Stärkung des Qualitätswettbewerbs Nachachtung verschaffen wollten.
Wir haben damals nicht erwartet, dass dieser Begriff – den auch wir fortan pausenlos propagierten – bald Einzug in die politische Debatte nehmen wird. Zum Beispiel sagte Ständerat Hans Wicki am 10. Dezember 2018 im Ständerat: „Wir leiten mit dieser Revision jetzt einen eigentlichen Paradigmenwechsel ein.“ Ähnliche Voten erfolgten von Vertretern aller Fraktionen und selbst der zuständige Bundesrat Ueli Maurer nahm das Wort unentwegt in den Mund, wenn er für die Neuerung im BöB warb. Mit Abschluss der politischen Diskussion war klar: Das Parlament will eine Veränderung, es will mehr Qualität, mehr Nachhaltigkeit, mehr Innovation – es fordert ein Umdenken, eine neue Vergabekultur, ja, eben einen Paradigmenwechsel.
Umso erstaunlicher ist, dass nun um gerade diesen Begriff des Paradigmenwechsels ein bizarrer Streit entbrannt ist. Ist es nun effektiv ein einer oder eben doch nicht? Vor allem Juristinnen und Juristen bezweifeln einen solchen. Etwa die Zürcher Rechtsanwältin Claudia Schneider Heusi, eine renommierte Vergaberechtlerin. Sie behauptet in einem Beitrag in der Zeitschrift „Baurecht“ (Nr. 1 / 2020, S. 33), „ein Paradigmenwechsel findet indessen […] nicht statt“.
Was nun?
Zunächst könnte man die Beurteilung dieser Zweifler – die im klaren Widerspruch zu den Äusserungen des Gesetzgebers steht – mit dem Wesen vieler Juristen erklären. Der Schreibende – selber ein Vertreter dieser Zunft – darf dies sagen, denn auch er ist nicht immer gefeit von diesem Denkmuster: Juristen sind (man entschuldige mir die Verallgemeinerung und Vereinfachung…, die Juristen mögen sich jetzt viele „grundsätzlich“, „oftmals“, „teilweise“ etc. hinzudenken) konservative Leute, wenn es um ihr eigenes Wissen geht. Das während des Studiums und im Berufsleben angeeignete Wissen ist das Kapital des Juristen; daran gilt es möglichst lange festzuhalten und es möglichst effizient und gewinnbringend einzusetzen. Zwar bringen Gesetzesänderungen immer auch neue Opportunitäten (neue Aufträge z.B.), aber sie führen eben auch dazu, dass man sein Wissen aktualisieren muss. Das ist mühsam (wer passt schon gerne seine Vorlagen, Musterdokumente und Textbausteine an?). Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu naheliegend, wenn der Jurist und die Juristin sich rasch ein Urteil zurechtlegt, wonach eine Änderung materiell eigentlich gar keine Neuerung darstelle, allenfalls eine Präzisierung oder leichte Adjustierung. Am Grundsätzlichen soll sich bitte nichts ändern.
Nun kann man natürlich einwenden – durchaus zurecht –, dass diese ganze Diskussion um eine Deutung völlig irrelevant sei. Denn was (einzig!) zählt, ist natürlich der Gesetzestext. Ein Gericht wird sich nicht die Frage stellen, ob nun mit der Revision ein Paradigmenwechsel erfolgt ist oder nicht. Es wird einfach das neue Recht anwenden. Aber: Das Gericht wird das neue Recht natürlich auch auszulegen haben und eine juristische Auslegung hat immer auch im Lichte der Diskussion des Gesetzgebers bei der Erarbeitung und der Verabschiedung eines Gesetzes zu erfolgen.
Bei der Auslegung und der Anwendung des Gesetzes ist somit der Wille des Gesetzgebers zu berücksichtigen. Das Gesetz ist so anzuwenden, wie es vom Gesetzgeber grundsätzlich gedacht war (das Paradigma als die grundsätzliche Denkweise, vgl. Wikipedia). Die Absichten des Gesetzgebers finden sich in Zweckartikel eines Gesetzes. Hier wird die Marschrichtung vorgegeben – um was geht es im Gesetz, welche Ziele werden damit angestrebt? Für die Anwendung und die Auslegung des Gesetzestextes ist der Zweckartikel zentral, er ist quasi die Gebrauchsanweisung des Gesetzes.
Nach dem bisherigen, noch bis am 31. Dezember 2020 geltenden BöB will das Gesetz, unter anderem, „den wirtschaftlichen Einsatz der öffentlichen Mittel fördern“ (Art. 1 Abs. 1 lit. c BöB). Im neuen, ab dem 1. Januar 2020 geltenden BöB lautet der an erster Stelle genannte Zweck des Gesetzes: „den wirtschaftlichen und den volkswirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltigen Einsatz der öffentlichen Mittel“ (Art. 2 lit. a revBöB). Der Zweck der Wirtschaftlichkeit wird damit um den – auf gleicher Stufe stehenden – Zweck der Nachhaltigkeit ergänzt. Die oberste Maxime des Beschaffungsrechts ist damit nicht mehr die (reine) Wirtschaftlichkeit, sondern hinzu kommt die Nachhaltigkeit. Der nachhaltige Einsatz der öffentlichen Mittel ist nicht eine bedeutungslose Etikette, sondern ein Auftrag des Gesetzgebers: Die Vergabebehörden müssen nachhaltig beschaffen. Damit kann nicht alles beim alten bleiben; wer bisher nur den Preis im Fokus hatte, muss seine Vergabepraxis ändern. Die neue Denkweise, die neue Vergabekultur, oder, ja, das neue Paradigma gilt für alle.