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«Die ländliche Dorfgemeinschaft wird als das natürliche, geistige und gesunde Leben glorifiziert.»

Innovation Nachhaltigkeit Politik Unternehmen Wirtschaft Donnerstag, 3. Januar 2019

Interview mit Sabrina Contratto Ménard, Dipl. Arch. ETH SIA CAS Urban Management

Verdichtung ist ein grosses Thema, trotzdem wünschen sich auch heute noch viele junge Leute ein Haus mit Garten und Hecke. Wie erklären Sie sich diesen Wunsch?

Erlauben Sie mir dazu einen Blick in die Vergangenheit. Bis heute ist die Schweiz der einzige europäische Staat, der aus einem Zusammenschluss von städtischen und ländlichen Kernen entstanden ist und sich nicht von einem Zentrum heraus entwickelt hat. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich der Gedanke, bewusst das «Antiurbane» als geistige Landesverteidigung zu vertreten. Der Boden, die Natur und die Berge machten das sogenannte Schweizerische aus.

Deutlich verbildlicht wurde diese Haltung auch in der Geschichte von «Heidi» von Johanna Spyri, in der die ländliche Dorfgemeinschaft als das natürliche, geistige und gesunde Leben glorifiziert wird, während die Grossstadt das künstliche, materialistische und ungesunde Leben bedeutete. Dieser Grundgedanke ist nach wie vor tief in den Köpfen der schweizerischen Bevölkerung verankert. Junge Leute, die das ländlichere Leben suchen, sind oft selbst auf dem Land aufgewachsen. Die Erinnerung an das «abenteuerliche» Leben, die Nachbarschaften und das übersichtlich Kleinräumige rückt in der Phase der Familiengründung erneut verstärkt in den Vordergrund. In der Empty-Nest-Phase wird dieses Bedürfnis durch die Erinnerung des früheren Stadtlebens wieder abgelöst, die älteren Leute zieht es vermehrt in die Stadt zurück.

Welche Vorteile hat ein verdichtetes Quartier für die BewohnerInnen?

Unendlich viele! Ein verdichtetes Quartier bedeutet meines Erachtens in erster Linie die Erreichbarkeit in Gehdistanz, seien es Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Fitnesscenter, Schulen, Parks oder der Italiener um die Ecke. In meiner Idealvorstellung übrigens auch der Arbeitsort.

Auch die Nachbarschaft bekommt eine neue Bedeutung, sofern die Begegnungsorte den unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechen. Verdichtete, gut durchdachte Quartiere bringen die Qualität der zu Beginn erwähnten Dorfgemeinschaft in die Stadt zurück, mit dem Vorteil einer ausreichend vorhandenen Infrastruktur.

Gibt es Tendenzen bei den Verdichtungsstrategien? Wenn ja, welche?

Mit dem neuen Raumplanungsgesetz von 2014 wurde die Phase 3 der Siedlungsentwicklung eingeläutet; vom Bauen auf der grünen Wiese (Phase 1) zum Entwickeln von brachliegenden Industriearealen (Phase 2) nun zur Siedlungsentwicklung nach innen (Phase 3).

Weshalb?

Der Ausbau des nationalen Strassennetzes und der S-Bahnen, aber auch die regulatorischen Baubegrenzungen in den Städten, heizten die jahrzehntelange Zersiedlung an und machten die Schweiz zu einem Pendlervolk, was dazu führte, dass immer weniger Leute dort leben, wo sie arbeiten, konsumieren und ihre Freizeit verbringen.

Bis heute wurde im Grunde genommen dem in der Bundesverfassung geforderten haushälterischen Umgang mit dem Boden nicht nachgekommen, im Gegenteil. Seit den 1960er Jahren und dem damit einhergehenden Wirtschaftsaufschwung wurde planlos eingezont und ausgebaut, unglücklicherweise an den falschen Orten. Dem soll nun laut dem neuen Raumplanungsgesetz Einhalt geboten werden. Die Zersiedlung führte zu einem unendlich grossen Ausbau an Infrastruktur, zu hohen Verkehrsaufkommen und somit am Ende zu einer umweltschädlichen Entwicklung der allgemeinen Güter Boden, Luft und Licht.

Das subsidiäre System der Schweiz übergibt die Hauptverantwortung und -kompetenz insbesondere in der Raumplanung in die Hände der Kantone, was die unzähligen, unterschiedlichsten Entwicklungsstufen und -qualitäten der Siedlungsentwicklung in der Schweiz erklären lässt. 2012 wurde erstmalig in der schweizerischen Raumplanungsgeschichte ein von allen Staatsebenen gemeinsam erarbeitetes und getragenes Raumkonzept Schweiz entwickelt, welches eine erste Abhilfe gegenüber diesem Dilemma schafft, auch wenn es nur orientierend und nicht behördenverbindlich ist. Des Weiteren gibt es zahlreiche Bestrebungen, speziell im Kanton Bern, die aus den 1950er Jahren stammenden starren Planungsinstrumente wie beispielsweise die Bau- und Zonenordnung verstärkt der dynamischen Siedlungsentwicklung anzupassen. Man spricht hierbei von städtebaulichen, fokussierten, reduzierten oder prinzipienbasierten Nutzungsplanungen.

Wie sieht grundsätzlich Ihre Kritik an diesen Verdichtungsstrategien aus?

Ich ziehe es vor, anstelle von Kritik über neuartigere Entwicklungsstrategien zu sprechen. Meine Firma CONT-S hat zusammen mit Sibylle Wälty, Researchier GmbH, unter dem Überbegriff Siedlungsentwicklung 4.0 eine etwas andersartige Herangehensweise der Verdichtungsstrategie entwickelt. Anstelle einer Lösung für viele lokale Einzelthemen für die nächsten 20-30 Jahre verfolgen wir die Entwicklung einer 100-jährigen, gesamtheitlichen Vision. Mittels geo- und hektarbasierter Daten, es liegen uns die Daten der gesamten Schweiz vor, analysieren wir als erstes, inwiefern es sinnvoll ist, dass ein Ort wachsen bzw. verdichtet werden soll. Erfüllt ein Ort Grundvoraussetzungen wie beispielsweise eine gute Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr, eine ausreichende Infrastruktur und ein Minimum an Einwohnern und Arbeitsstätten, folgt eine funktionelle und räumliche Analyse nach dem SESIL Prinzip: Space – Economics – Society – Infrastructure – Law. Mit dem erarbeiteten und ausgewerteten Grundwissen folgt die Strategieentwicklung nach den folgenden drei Voraussetzungen:

  1. Dichte
    Damit ein Ort wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich nachhaltig «funktioniert», benötigt man eine Dichte pro Hektare von rund 200-250 Bewohnern.

    Warum? Ein vielfältiges Angebot an Läden, Restaurants und anderen gewerblichen Nutzungen kann nur bei einer gewissen Frequenz von Kunden, also einer gewissen Dichte an Personen, bestehen. Auf einer Fläche innerhalb eines Radius von 500 Metern, was einer Fläche von rund 80 Hektaren entspricht, sollte somit eine Bevölkerungsdichte von rund 20 000 Personen erreicht werden. Durch diese Dichte, und da komme ich auf Ihre zweite Frage zurück, kann alles Wesentliche in Gehdistanz oder mittels öffentlichem Verkehr erreicht werden und die Pendler- und Einkaufszentren-Mobilität nehmen mittelfristig ab.
  2. Mix
    Damit diese Dichte funktioniert und der Ort nicht zu einer Schlaf- oder Arbeitsstadt verkommt, benötigt es einen Mix von 2:1, das bedeutet, auf zwei Bewohner folgt eine Arbeitsstelle (ein Vollzeitäquivalent). Der Ort lebt 24 Stunden am Tag. Durch diesen Mix werden genügend Arbeitsplätze bzw. wird genügend Wohnraum geschaffen, um am selben Ort zu arbeiten, zu konsumieren und zu wohnen.
  3. Qualität Raum
    Die dritte Voraussetzung ist die Sicherstellung der Qualität des öffentlichen Raums, der durch die Verdichtung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die Qualität eines öffentlichen Raums definiert sich sowohl durch die volumetrische Begrenzung als auch durch die Materialisierung und Möblierung. Es gilt von Anfang an, diese Räume zu klären und in ihrer Qualität zu sichern. Adäquate Platzflächen und -arten, Strassenbreiten, Gassen, Infrastrukturen und Raum für öffentliche Bauten sind ausschlaggebend für die Qualität eines Ortes und dessen Identität.

In einem iterativen Prozess mit allen massgebenden Beteiligten wie Gemeinde, Politik und Fachleuten wird anhand der oben genannten drei Festlegungen eine 100-jährige städtebauliche Vision entwickelt. Das altbewährte Stadtmodell dient dabei als wichtigstes Kommunikationsmittel für weitere Prozesse mit der Bevölkerung und privaten Grundeigentümern. Es visualisiert sowohl das Entwicklungspotenzial der einzelnen Grundstücke als auch die Qualität und Quantität der öffentlichen Räume und damit den sichtbaren Mehrwert für den Ort. Die Erfahrung zeigt, dass diese beiden Themen für die Bevölkerung am bedeutungsvollsten sind. Die weitverbreitete Vermittlung mittels zweidimensionaler, farbiger Zonenpläne hat unseres Erachtens längstens ausgedient.

Kurz zusammengefasst braucht es für eine Ortsentwicklung genügend Dichte, ein stabiles Verhältnis von Bewohnern und Arbeitsstellen sowie ein robustes städtebauliches Gesamtkonzept, das die öffentlichen Räume sichert. Die Vision schafft Vertrauen, sichert die Qualität künftiger Entwicklungen und reduziert sich ständig entfachende Grundsatzdiskussionen bei Überbauungen.

Gibt es regulatorische Herausforderungen im Kontext der Verdichtung?

Leider unendlich viele! Nebst den oben erwähnten statischen Bau- und Zonenordnungen wären da die zahlreichen Vorschriften und Normen im Bereich der Umweltpolitik, die es zwar zweifelsohne benötigt, allerdings nicht in diesem Masse und dieser restriktiven Form. Beispielsweise die Lärmvorschriften. Tatsächlich scheint mir, dass die städtebaulichen Entwürfe mittlerweile durch die Lärmvorschriften reguliert werden. Durch die ständig zunehmenden einzuhaltenden Immissionswerte werden entweder die Gebäude von der Strasse zurückversetzt oder aber die Gebäudetiefen schrumpfen zu einem unwirtschaftlichen Mass. Diese Entwicklung führt auf verschiedensten Ebenen zu massiven Nachteilen: Verunklären des öffentlichen Strassenraums, Verunmöglichen von Verdichtung und somit Demotivation für Immobilienentwicklungen.

Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in der Verkehrspolitik und -planung. Tatsächlich ist die ausreichende und einwandfreie Erschliessung eines Ortes von zentraler Bedeutung, jedoch wird aus unserer Sicht die zeitliche Hierarchie einer Siedlungsentwicklung ausser Acht gelassen. Der Städtebau - oder anders gesagt die räumliche Struktur eines Ortes - ist der langlebigste und trägste, aber auch qualitativ entscheidendste Teil, während sowohl der Verkehr als auch die Nutzungen volatiler und somit kurzfristiger sind. Gut strukturierte und langfristig geplante Städte wie Mailand, Wien oder Barcelona sind in der Lage, all diese Veränderungen aufnehmen zu können, ohne dass der Ort an Qualität und Identität verliert. Genau diese Robustheit gilt es auch in Schweizer Städten herzustellen.

Gibt es neue Themen im Kontext von verdichteten Quartieren?

Die grosse Herausforderung einer Verdichtung nach innen ist das Zusammenbringen zahlreicher Akteure mit den unterschiedlichsten Interessen. Hierzu wird sehr oft der Begriff «Stakeholdermanagement» verwendet, der aufzeigt, wer, wie und wann in einem Entwicklungsprozess eingebunden bzw. abgeholt werden soll. Als Stakeholder sind nicht nur angrenzende Eigentümer gemeint, sondern alle Arten von Interessensgruppen wie Quartiervereine, Mieter, Investoren, Anwohner, Planer, Politik, Verbände und Behörden. Dies bedarf unter anderem mehr denn je eines kommunikativen Geschicks, nebst Verständnis und Kompromissbereitschaft.

An der usic CEO-Konferenz plädierten Sie für einen von der Lokalpolitik losgelösten Raumplanungs-Thinktank. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Mein Schlussvotum «Von der Vision zur Norm, nicht umgekehrt!» stiess auf grossen Zuspruch. Die meisten Planer, ich inklusive, beklagen sich zu Recht darüber, dass ihre Hauptaufgabe darin besteht, all die bestehenden Normen zu erfüllen. Für Innovationen fehlen meist die Zeit, das Geld und auch der Mut. Ein Thinktank ist politisch neutral und schafft eine Plattform für übergreifende Themen, in diesem Falle die Raum- und Siedlungsentwicklung. Losgelöst von Gesetzen und Normen soll eine Denkfabrik geschaffen werden für Innovation, Strategie und Vision auf unterschiedlichsten Ebenen. Ein grossartiger Gedanke, finde ich.

Welche Themen sollte dieser Thinktank bearbeiten und mit welchem Ziel?

Mein persönliches Hauptanliegen wäre, ein neues Finanzierungsmodell für die Entwicklung von Verdichtungsstrategien von Städten und Gemeinden zu lancieren! Wir vertreten ganz klar die Meinung, dass die Planung einer Siedlungsentwicklung weder von politischen Partialinteressen noch von kommunalen Finanzengpässen abhängig sein kann.

Ein nationaler «Fonds de Roulement» beispielsweise könnte in Form eines vergünstigten, langfristigen Darlehens die Planung einer professionellen Strategieentwicklung eines Ortes finanzieren. Die Rückzahlung würde mittels Mehrwertabgaben der neu verdichteten Gebiete erfolgen. Diese Art von Finanzierung wird übrigens seit den 1980er Jahre im gemeinnützigen Wohnungsbau angewendet.

Ein weiteres Anliegen ist die verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Raum-, Verkehrs- und Städteplanern bzw. Architekten.

Wie sollte dieser Thinktank zusammengesetzt sein? Nur mit Fachpersonen aus dem Planungsbereich oder auch mit Personen anderer fachlicher Ausrichtung?

Bei der Besetzung ist zum einen, wie bei einem guten Unternehmen, ein talentierter «Tätschmeister» (Organisator/Wortführer) zu bestimmen, der sich um die gesamte Organisation kümmert. Das mag etwas verstaubt klingen, aber nur so ist eine Denkfabrik allenfalls erfolgreich. Die Teilnehmer sind strategisch denkend, ohne die Bodenhaftung zu verlieren, stark vernetzt, querdenkend und risikofreudig. Eine gute Durchmischung von Fachpersonen aus möglichst unterschiedlichen Sparten, aber auch Unternehmer und Entwickler, also Endkunden, ist von Bedeutung.

Wie müsste man vorgehen, um die politische Akzeptanz eines Thinktanks zu fördern?

Ich bin eine grosse Verfechterin der schweizerischen Vereinsarbeit. Unglaublich viele Planer engagieren sich unentgeltlich für die Baukultur im weitesten Sinne. Diesem unermüdlichen Einsatz für Mehrwerte sollte zwingend mehr Aufmerksamkeit auf politischer Ebene geschenkt werden. Dazu braucht es Lobbyisten, die dafür einstehen und vernetzt sind.

Wie verändert sich die Stadt im Kontext der zunehmenden Anzahl von Generationen?

Trotz der nach wie vor existierenden «Hüsliromantik» nimmt der Wunsch nach Zentrumsnähe sowohl für jüngere als auch ältere Generationen zu. Dies stellt die Gemeinden vor die Herausforderung, die Stadt bzw. das Zentrum demographisch betrachtet ausgeglichen und attraktiv zu halten. Überzeugende Bildungs-, Gesundheits- und Freizeitinfrastrukturen sind genauso massgebend wie eine nachhaltige Ver- und Entsorgung.

Städte müssen viele Bedürfnisse abdecken. Kann das gelingen?

Ein brisantes sozialpolitisches Thema ist und bleibt die soziale Durchmischung. Eine Stadt hat die Aufgabe, möglichen Segregationen, seien sie ethnischer, politischer oder wirtschaftlicher Natur, entgegenzuwirken. Dies bedeutet nebst Wohnraumschaffung für einkommensschwächere Haushalte auch das Schaffen öffentlicher Räume und Infrastrukturen für die Entfaltung der unterschiedlichen Kulturen sowie räumliche Strategien zur Förderung und Forderung der Integration.

Welche Trends kommen nebst der Verdichtung auf die Planungsbranche zu?

Mit Sicherheit wird uns einmal mehr die Mobilität beschäftigen, speziell die Umnutzung der voraussichtlich in zehn Jahren hinfälligen Tiefgaragen, aber auch die damit zusammenhängende Neugestaltung der Strassenräume.

Weiter bin ich überzeugt, dass die heutigen Haustechnikanlagen in den nächsten Jahren an Glaubwürdigkeit und Notwenigkeit verlieren werden. Die globale Forderung, den CO2-Ausstoss massiv zu reduzieren, lässt einen nachdenklich stimmen, betrachtet man den hohen Anteil an grauer Herstellungsenergie von Haustechnikanalgen, deren Halbwertszeit bei 10-15 Jahren liegt. Aktuelle Beispiele zeigen, dass die Kombination von heutiger Software mit altbewährten, nachhaltigen Bauweisen aus dem 19. Jahrhundert zu beinahe haustechniklosen, komfortablen und eleganten Gebäuden führen kann.

Sabrina Contratto Ménard

Sabrina Contratto Ménard, Dipl. Arch. ETH SIA CAS Urban Management, gründete 2018 ihre Firma CONT-S und hat sich spezialisiert auf die gesamtheitliche Strategieentwicklung von Gemeinden und Entwicklungsgebieten. Davor gründete und leitete sie das Architekturbüro Baumschlager Eberle, Zürich. Mandate als Mitglied von Beurteilungsgremien von Studienaufträgen sowie Mandate als Verwaltungsrätin ergänzen ihre Tätigkeit.

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