Mind The Gap
Seit dem 1. Januar 2021 ist das neue Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) in Kraft. Ein Kernelement des neuen Rechts ist die Verankerung der nachhaltigen Beschaffung. Das neue Gesetz führt die Nachhaltigkeit an prominenter Stelle ein: Gemäss Art. 2 lit. a BöB bezweckt das Gesetzt „den wirtschaftlichen und den volkswirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltigen Einsatz der öffentlichen Mittel“. Diese Bestimmung verkörpert den vom Parlament gewollten Paradigmenwechsel von der preisfokussierten Vergabe zum Qualitätswettbewerb. Die Vergabebehörde darf nach neuem Recht nicht mehr nur den möglichst kostengünstigen Einsatz der öffentlichen Mittel im Auge behalten, sondern sie muss sicherstellen, dass die öffentlichen Mittel nachhaltig eingesetzt werden.
Über die Art und Weise, wie das Ziel der nachhaltigen Beschaffung erreicht werden kann, wird viel diskutiert. Es fehlt vielerorts (noch) an einschlägigen Erfahrungen und die Entwicklung neuer Modelle ist anspruchsvoll: Wie gelingt es, ein Verfahren zu organisieren, welches einen wirksamen Qualitätswettbewerb ermöglicht, gleichzeitig aber auch überschaubar, transparent und einfach bleibt? Hier ist Denkarbeit gefordert und wer, wenn nicht die Ingenieurinnen und Ingenieure sind bestens prädestiniert, mit Innovation, Mut und Weitsicht voranzugehen und Lösungen zu entwickeln!
Die Nachhaltigkeit lässt sich auf verschiedene Weise in die Beschaffung einbringen: Zum einen kann im Rahmen der Beschreibung der ausgeschriebenen Leistung (technische Spezifikationen) Einfluss auf die Wahl der Produkte genommen werden. Zum anderen bilden die Eignungs- und vor allem die Zuschlagskriterien Instrumente für die Wahl des „richtigen“ Partners. Die usic hat mit ihrer „Matrix der Nachhaltigkeit“ (abrufbar auf unserer Website) hierzu einige Denkanstösse gegeben.
Auch die Vergabebehörden ziehen mit: Die KBOB publiziert eine Vielzahl von Dokumenten (vgl. kbob.ch / „Nachhaltiges Bauen“) und betreibt eine Wissensplattform nachhaltige öffentliche Beschaffung (WöB). Diesen Frühling hat die KBOB eine vielbeachtete (Online-)Tagung zum Thema nachhaltige Beschaffung durchgeführt. Das sind positive Impulse, welche es in der Praxis nun zu testen, zu challengen und weiterzuentwickeln gilt!
Nicht nur die nachhaltige Beschaffung ist ein Thema der Stunde, sondern auch das nachhaltige Bauen als solches. Die Stichworte der Kreislaufwirtschaft oder des Baustoffrecyclings sind in aller Munde. Auch das ist eine positive – und von der usic geförderte – Entwicklung, denn nicht nur liegt der Handlungsbedarf angesichts der Klimaherausforderungen auf der Hand (darum macht z.B. auch das neue CO2-Gesetz Sinn und die usic setzt sich dafür ein), sondern auch hier liegt der Schlüssel zum Erfolg wiederum in der Kompetenz und im Know-how der Ingenieure und Ingenieurinnen.
Auch in diesem Bereich läuft sehr viel – Empfehlungen werden publiziert, Pilotprojekte lanciert, Forschung betrieben und so weiter. Hervorzuheben ist die Erfolgsgeschichte des Standards Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS), welcher im Bereich des Hochbaus etabliert ist und nun auch im Infrastrukturbau Fuss fassen wird.
Alles gut also? – Auf dem Papier ja, hier tönt vieles erfolgsversprechend! Aber der Erfolg misst sich in der Praxis. Und hier muss sowohl im Bereich der Beschaffung wie auch im Bereich der Projektrealisierung der langfristige Tatbeweis noch erbracht werden. Die Mitgliedunternehmen der usic werden hierbei eine wichtige Rolle spielen.
Und – Mind the gap. Ein schon lange bestehendes Problem wird durch die stärkere Fokussierung auf die Nachhaltigkeit immer offenkundiger: Zu oft klafft eine grosse Lücke zwischen der Beschaffung und der späteren Realisierung. Zwar ist es toll, wenn in der Beschaffung sichergestellt wird, dass ein Planungsunternehmen beauftragt wird, welches Kompetenzen im Bereich der Nachhaltigkeit mitbringt. Eine solche Beschaffung ist aber im Hinblick auf die gesamtheitlichen Nachhaltigkeitsziele obsolet, wenn anschliessend in der Realisierung des Bauvorhabens der Nachhaltigkeit keinen Stellenwert mehr beigemessen wird. Es bringt keinen Gewinn für die Nachhaltigkeit, wenn von den Anbietern im Rahmen der Beschaffung gute Vorschläge abgerufen werden (z.B. Optimierungen unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit), diese dann aber im späteren Projekt nicht auch effektiv umgesetzt werden.
Hier besteht ein fundamentales Problem der heutigen Projektabwicklung: Die Beschaffung und die Realisierung ist durch einen zu grossen Gap getrennt, der Informationsfluss ist nicht durchlässig und es arbeiten getrennte Projektteams an beiden Enden. Wer ernsthaft neue Wege gehen will und der Nachhaltigkeit im Baubereich zum Durchbruch verhelfen will, muss diesen Gap schliessen. Die gleichbleibenden Nachhaltigkeitsziele sind von der Beschaffung bis zum Ende des Projektes (resp. darüber hinaus bis zum Ende des Lifecycle) anzuwenden und zu koordinieren. Auch hierfür bieten die Ingenieurinnen und Ingenieure Konzepte und Lösungen. Neue Zusammenarbeitsformen und die zunehmende Digitalisierung werden das ihre dazu beitragen.